Frühjahr und Winter sind Holzsammelzeit: Noch vor Tagesanbruch ziehen vor allem Frauen und Kinder los, um die letzten verbliebenen Holzvorräte des Tales aufzusuchen. Dabei ist „Holz“ eigentlich ein Euphemismus: Da die letzten Wälder großteils abgeholzt sind, nennt man es besser „verholzte Gräser“, was die Sammelnden da als Ausbeute nachhause bringen. Es sind vor allem Artemisia-Arten sowie ein kugeliges Dorngestrüpp von etwa einem halben Meter Durchmesser, im Volksmund „zash“ genannt. Dieses braucht etwa 35 Jahre, um bis zu dieser Größe heranzuwachsen – mit einem lauten Knistern verbrannt ist die Pflanze hingegen in 5 Minuten. Die Gehölze müssen mit einer Hacke (oder einem Eispickel, der zuvor Bergsteigern abgelockt wurde) dem steinigen Boden entrissen werden. Wer einen Esel hat hat Glück, denn dann muss er die Ausbeute des Tages die bis zu 20 km zurück ins Dorf nicht auf dem Rücken oder Kopf tragen.
Ausgelaugt kommen die Gehölz-Sammler abends im Dorf an. Ein warmes Bad, um sich den Staub und Schweiß des Tages abzuwaschen, werden sie sich aber eher dreimal überlegen: Eine Eselsfuhre leichtes Gehölz reicht bei einer mittelgroßen Familie gerade mal für etwa zwei Tage aus, weswegen viele Familien in der Sammelsaison jeden Tag zumindest ein Mitglied ins "Holz" schicken. Da darf nichts verschwendet werden…
Der aufmerksame Wanderer im Pamir wundert sich oft über offensichtlich umgedrehte Kuhfladen am Wegesrand: Dies zeigt an, dass sich diesen Fladen bereits jemand reserviert hat, der Fladen aber noch trocknen soll, bevor ihn der künftige Nutznießer einsammeln kommt. Getrockneter Dung ist neben Gehölz die zweitwichtigste Energiequelle – je nach Form, Konsistenz, produzierender Tierart und Brennwert kennen die Pamir-Sprachen hierfür mehrere unterschiedliche Begriffe!
Die Brennstoffe werden benötigt, um zu Kochen, Wasser für das Waschen und Abspülen zu erhitzen und im Winter gleichzeitig das Haus zu heizen. Denn: Strom gibt es in den Dörfern des oberen Bartangtals entweder gar keinen, oder aber das jeweilige Dorf unterhält ein Klein-Wasserkraftwerk, das allerdings lediglich für eine funzelige Glühbirne und den Fernseher ausreichend Strom liefert – und im Sommer aufgrund der Schwebestoffe im Schmelzwasser ohnehin meist kaputt ist.
Manche Familien kaufen zu Gehölz und getrocknetem Dung noch etwas Kohle hinzu, die jedoch wegen der langen Transportwege und der schwachen Brücken im Bartang-Tal, die keine großen LKWs tragen können, extrem teuer ist. Andere Haushalte kochen ergänzend mit etwas Gas – so sie es sich leisten und einen Fahrer überzeugen können, die Gasflaschen trotz der häufig undichten Verschlüsse und der Explosionsgefahr auf den Holperwegen zu transportieren.
Ein unfreiwillig positiver Effekt des Energieproblems ist, dass die malerische Landschaft in Bartang durch keinerlei herumliegenden Verpackungsmüll optisch gestört wird – alles Brennbare, das anfällt, wandert unweigerlich in den Herd.
Um mehr über den beschwerlichen Alltag des Holzsammelns zu erfahren, siehe den Kurzfilm von Roman Droux ab Minute 7:00: Hier klicken
Das Energieproblem ist ein typisches Problem der „Wende“: Der Pamir bildete nämlich einst einen der südlichsten Zipfel der Sowjetunion. Die Sowjetregierung betrachtete die Region als eine der
„unterentwickeltsten“ des Reiches und wollte mit einer umfassenden Modernisierung (nach sowjetischen Maßstäben) ein Exempel statuieren. Auch wenn der „Entwicklungsrückstand“ bis zum Ende
der Sowjetzeit nicht aufgeholt werden konnte, so wurden die Pamiri dennoch mit zahlreichen vor allem infrastrukturellen Maßnahmen verwöhnt, etwa durch die Lieferung stark subventionierter Kohle
selbst in entlegene Ecken wie das Bartangtal. Ein Erbe aus dieser Zeit ist auch die plötzliche Bevölkerungsexplosion: Die sowjetische Politik ermunterte die Familien, so viele Kinder wie möglich
zu bekommen – für das zehnte erhielt die Mutter eine besondere Aufzeichnung verliehen. Zugleich, aufgrund einer nun vergleichsweise guten medizinischen Versorgung, mit einer der höchsten
Ärztedichten der Welt, erreichten auch die meisten Kinder tatsächlich das Erwachsenenalter.
Der plötzliche Einbruch kam 1991, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Unabhängigkeitserklärung Tadschikistans und einem darauffolgenden Bürgerkrieg von 1992 bis 1997, der die tadschikische Infrastrukturentwicklung um Jahrzehnte zurückwarf. Die Bartangi waren gezwungen, sich wieder so zu versorgen wie vor hundert Jahren – jedoch mit einem Vielfachen der damaligen Bevölkerungsgröße. Zudem fanden sie sich plötzlich in einem Staat mit einer der schwächsten Volkswirtschaften der Welt wieder.
Der Brennstoffmangel dominiert, so konstatieren die Pamiri, ihren gesamten Alltag, und er ist Mitauslöser der meisten anderen Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben:
1. Da fast aller Dung verheizt wird, steht er nicht als Dünger für die Felder zur Verfügung. Diese haben folglich wesentlich geringere Erträge als eigentlich erzielt werden könnten.
2. Eines der größten wirtschaftlichen Potenziale des oberen Bartangtals, das sogar noch ausbaufähig wäre, liegt in der Viehzucht. Jedoch konkurriert das Vieh mit den Brennstoffsammlern um den letzten Rest an Vegetation, sodass Kühe und Ziegen zu mager sind und häufig nur noch ein Rinnsal an Milch geben.
3. Viele Familien in Bartang wünschen sich ein eigenes Einkommen; jedoch sind Berufsmöglichkeiten bislang rar gesät. Eine Elektrifizierung würde das Spektrum deutlich erweitern: Möglich wären etwa Handwerksbetriebe wie Nähereien und Schweißereien; in denen viele Bartangi gute Kenntnisse besitzen.
Auch indirekt hätte eine Lösung des Energieproblems einen positiven Nebeneffekt für die Einkommensmöglichkeiten. Ein gutes Vorbild ist das Dorf Bardara im mittleren Bartangtal: Dieses verfügt über ein relativ starkes Wasserkraftwerk, das genügend Energie für den Alltag liefert, sodass die Frauen fast keine Brennstoffe mehr zu sammeln brauchen. Die freiwerdende Zeit nutzen sie dafür, die traditionellen Pamir-Socken in größeren Mengen herzustellen, deren Verkauf in der Stadt hohe Gewinne erzielt.
4. Ein Mangel an Bewuchs fördert die im Pamir ohnehin schon ausgeprägte Erosion und erhöht damit das Risiko für Steinschlag, Lawinen und Erdrutsche. Durch eine Schlammlawine an einer anderen Stelle des Bartangtals wurde bereits ein komplettes Dorf ausgelöscht.
5. Viele Frauen, die regelmäßig Holzsammeln gehen, beklagen sich über gesundheitliche Probleme, wie etwa Rücken- und Gliederschmerzen. Da es sich oft nicht lohnt, schon nach einem Tag von der Holzsammelstelle wieder ins Dorf zurückzukehren, ziehen es viele vor, an Ort und Stelle zu übernachten. Da aber fast niemand eine wärmende Campingausstattung besitzt, ziehen sich viele dabei eine chronische Stirnhöhlenentzündung oder Nierenbeckenentzündung zu; zwei der häufigsten Erkrankungen der Region.
6. Weil die Arbeitskräfte andernfalls nicht ausreichen, bleiben Kinder gezwungenermaßen oft der Schule fern, um sich am Holzsammeln zu beteiligen. Andere, die am Unterricht teilnehmen, und auch die Lehrer selbst sind oft so erschöpft vom Holzsammeln am Vortrag, dass sie sich kaum auf den Lernstoff konzentrieren können. Da bei den Bartangi Bildung seit jeher einen großen Stellenwert genießt, betrachten sie die leidende Unterrichtsqualität als eine der schlimmsten Konsequenzen ihrer Energiekrise. Sie befürchten, dass Bartang im Vergleich mit Standorten ohne Energieproblem im Bildungssektor weiter zurückfallen wird.
7. Bis noch vor wenigen Jahren war es unüblich, außerhalb der zehn Dörfer des oberen Bartangtals zu heiraten. Mittlerweile kommt jedoch auch dies vor, allerdings in asymmetrischem Geschlechterverhältnis: Viele junge Mädchen aus dem oberen Bartangtal sagen bereitwillig zu, wenn Brautwerber aus einem der tiefer gelegenen Dörfer vor der Tür stehen. Der Grund: Dort fällt die Energiekrise weniger heftig aus, und den Frauen wird folglich nicht die schwere Last des Holzsammelns aufgebürdet.
Umgekehrt würden die wenigsten Frauen von dort ins obere Bartangtal heiraten, weswegen viele der Jungs aus Bartang künftig Junggesellen bleiben werden.
8. Zuletzt: Viele Bartangi, die ihr Leben im oberen Bartangtal grundsätzlich schätzen und auch der Migration vorziehen würden, sind nicht mehr bereit, die Bürde des Brennstoffsammelns weiter auf sich zu nehmen oder ihren Kindern aufzulasten. So bleibt nur noch der Umzug in die Stadt, oder gleich nach Russland, das für Gastarbeiter aus Zentralasien aber nicht immer ein lebensfreundliches Milieu bietet...
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Das Bartangtal zu elektrifizieren ist aufgrund der extremen Abgelegenheit und der harschen Landschaft zugegebenerweise nicht ganz einfach und auch nicht billig. Dennoch wird es keine Alternative geben, soll die Gemeinschaft im oberen Bartangtal nicht komplett umgesiedelt werden.
Von vielen Seiten wurde den Bartangi schon ein großes Wasserkraftwerk versprochen, aber bislang konnte bis auf kleinere "Zwischenlösungen" keine der Projektideen umgesetzt. werden.